Rezension

Über eine baltische Pastorenfamilie

Dies ist die Geschichte der deutschbaltischen Pastorenfamilie Hoerschelmann. Dem evangelischen Pfarrhaus gilt auch heute noch historisches, kultursoziologisches und theologisches Interesse. Welche Bedeutung hatte es für das deutsche Geistesleben, welche Persönlichkeiten der inneren und äußeren Geschichte waren Pfarrerskinder und welche intellektuellen, wissenschaftlichen, musischen Motive lassen sich als besonderes protestantisches Erbe erkennen? Und: Was macht die christliche Existenz eines Pastors und seiner Familie aus, wie kommen Bekenntnis und Beruf, Subjektives und Öffentliches, Gemeindliches und Familiäres unter einem Dach zusammen? Was darf man von einer Pfarrfamilie erwarten; was gehört von der Lebensform „Pfarrhaus“ der Vergangenheit an und was kann, was soll bleiben?

Aschenbrenners Buch liest sich wie ein Roman, ist aber ein geschichtlich treuer Bericht. Hier schreibt ein Journalist, dem über das Pfarrhaus nachzudenken durch seine eigene Herkunft nahegelegt war. Durch seinen Schulkameraden Paul Gerhard Hoerschelmann war ihm schon früh dessen baltisches Pastorenerbe nahegekommen. Nun entschloß er sich, Charakter und Geschichte des evangelischen Pfarrhauses am Beispiel dieser Familie zu illustrieren. Er schöpft aus mündlichen und schriftlichen Überlieferungen. Daneben zieht er themenverwandte Literatur heran und öffnet so das Besondere dieser einen Traditionslinie für das Allgemeine der Geschichte.

Nachdem Ernst August Wilhelm Hoerschelmann 1768 aus Thüringen nach Reval (Tallinn) eingewandert und dort Gymnasialprofessor geworden war, sind aus seiner Nachkommenschaft fünf Generationen von Pastoren hervorgegangen, die bis zur „Umsiedlung“ 1939 in Gemeinden Estlands amtiert haben. Schon der Vater des Einwanderers war Pastor gewesen, und andererseits gibt es auch jetzt noch Pastoren von Hoerschelmann in zwei weiteren Generationen, so dass sich vom frühen 18. Jahrhundert bis heute eine Kette von neun Theologengenerationen ergibt.

Die Erzählungen präsentieren keine Idylle. Schwieriges und Paradoxes ist nicht ausgeklammert. Konflikte subjektiver, theologischer, sozialer und nationaler Natur werden plastisch fassbar. Bedrückend nahe kommen Berichte zur Schuldgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Baltischen Lesern bietet diese Galerie manche Ergänzung zu den Texten und Berichten aus der eigenen Familiengeschichte. Aber nicht nur Balten finden in diesem Buch Bewegendes, Belehrendes, Wesentliches. Die Nachdenklichkeit des Autors macht aus seinem Bericht einen Beitrag zu den aktuellen Diskursen über die vermeintlich „knappe Ressource Sinn“ (Jürgen Habermas) in unserer „säkularen“ oder „postsäkularen“ Gegenwart. Das Maßnehmen an Traditionen und „Motivbildungen des suchenden Wissens“ (Helmuth Plessner) schlossen und schließen sich nicht aus.

Stephan Bitter

Cord Aschenbrenner: Das evangelische Pfarrhaus. 300 Jahre Glaube, Geist und Macht. Eine Familiengeschichte. Berlin: Verlag Siedler 2015, 368 Seiten. Mit Abbildungen und einer Stammtafel • EUR 24, 99; ISBN 978-3-8275-0013-7

Quelle: Mitteilungen aus baltischem Leben – 3/2015