Cornelia Lyra

Baltenarbeit – Zukunftsarbeit

Ich habe sie geliebt, diese Sonntagmorgen, an denen ich als Kind im großen Stuhl, den Saum des Nachthemds fest um die Füße gewickelt, meiner Großmutter lauschte, die vom Leben der Familie in Riga und im Baltikum erzählte. Der Dom und die Düna, die rauschenden Feste in der Großen Gilde, die Ruhtenbergsche Fabrik an der Roten Düna, das Treusche Pastorat und die Sommer in Pabash am Meer waren mir durch ihre lebhaften Erzählungen so vertraut, als ob ich dabei gewesen wäre.

Unser Leben in Minden war geprägt von Deutschbalten, verwandt oder befreundet. Als Stadt blieb sie für mich immer nur der Ort, an dem die Treckpferde unseres Großvaters zusammengebrochen waren. Vermisst habe ich diese mangelnde Bindung an die Stadt, in der ich aufwuchs, nie. Aber auch die Heimat meiner Eltern und Großeltern im fernen Baltikum wurde dennoch nie die Meine. So fühle ich mich bis heute im geografischen Sinne heimatlos.

Wer jetzt denkt, mein Engagement für deutschbaltische Arbeit habe deshalb etwas damit zu tun, dass ich in Deutschland „nicht angekommen“ sei, der irrt. Im Gegenteil, mein Einsatz folgt der Frage – vorgelebt durch viele, aber vor allem durch meine Mutter Ursula Lyra – wie kann ich die Werte, die mir wichtig sind, in die Gesellschaft, in der ich lebe, einbringen. Werte wie Verantwortungsbewusstsein für die Gemeinschaft, Mut, Standhaftigkeit, Aufrichtigkeit, konstruktiver Individualismus und viele mehr. Werte, die in keiner Weise allein deutschbaltisch sind, aber mir als für Deutschbalten wichtig vermittelt und vorgelebt wurden. Der Deutsch-Baltische Arbeitskreis Erziehung, den meine Mutter Mitte der 70er Jahre ins Leben gerufen hat, stellt sich bis heute dieser Frage. Ein wesentliches Anliegen dieses Arbeitskreises, den wir Töchter weiterführen, war und ist, dem gedanklichen Austausch zwischen den Generationen einen Ort zu geben und ihn zu fördern.

Mein Hauptengagement gilt der Förderung der Jugendarbeit. Seit vielen Jahren begleite ich die Arbeit des Deutschbaltischen Jugendund Studentenrings und bin ihm dort, wo ich gebraucht werde, Förderer, Ansprechpartner und Fürsprecher. Die vielen Jugendlichen, die jedes Jahr am Frühlingsball der Hamburger Landsmannschaft teilnehmen, den ich organisiere, sind mir nicht nur Anerkennung und Dank, sondern zeigen auch, dass Werte und Tradition in unsere Zeit übersetzt werden können und vermittelbar sind.

Ebenso gehört mein Herz der Arbeit der Deutschbaltischen Studienstiftung mit ihren Kongressen und Intensivkursen für den internationalen Austausch von Jugendlichen aus Deutschland, Estland, Lettland, Litauen und anderen osteuropäischen Ländern. Das ist ein Stück gelebtes Europa. Auch 2014 hatte ich die Gelegenheit, jugendliche Kongressteilnehmer für einige Tage bei mir zu beherbergen – tolle Gespräche, wunderbare Erfahrung. Deshalb unterstütze ich aus vollem Herzen den Aufbau des Deutsch-Baltischen Jugendwerks.

Als meine Schwestern und ich Anfang der 70er Jahre zum Deutschbaltischen Jugend und Studentenring kamen, befand sich Deutschland in einer Phase tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen. Die Kritik an jeder Art von Autorität, ausgelöst durch die 68er Generation, war bei den pubertierenden Teenagern angekommen. Die sich hieraus ergebende Verunsicherung bei Eltern und Kindern führte zu einer verbreiteten Sprachlosigkeit zwischen den Generationen. Beim DbJuStR trafen wir auf Jugendliche, in deren Familien es, wie bei uns, anders war. Das Miteinander der Generationen war geprägt durch ein echtes Interesse füreinander, es fand ein wirklicher Austausch statt. Dabei wurden auch Meinungsverschiedenheiten ausgetragen, wenn nötig sogar vehement. Gerne erinnere ich mich an nächtliche Diskussionen über Gott und die Welt. Dieses Miteinander spüre ich noch heute bei vielen deutschbaltischen Veranstaltungen. Ich wünsche den heute im DbJuStR aktiven Jugendlichen ebenso bewahrenswerte Erfahrungen im Austausch der Generationen.

Sich in deutschbaltischer Arbeit zu engagieren, ist in meiner Familie gelebte Tradition. Aber Tradition bedeutet nicht, einfach das weiterzumachen, was die Eltern und Großeltern angefangen haben. Im kritischen und reflektierenden Dialog zwischen den Generationen wurde und wird bei uns viel über das kulturelle Erbe als Aufgabe, Geschichte und vor allem Verantwortung diskutiert. Es werden Ideen entwickelt und die sich daraus ergebenden Aufgaben und Projekte besprochen und angegangen. Das Leben im Baltikum, wie meine Großmutter es beschrieb, gibt es nicht mehr. Es bleibt mir aber als gelebte Geschichte – in Kindertagen in schönen Geschichten erzählt – nachhaltig in Erinnerung. Wichtig ist mir heute, durch den Erhalt unserer Gemeinschaft, Werte und Traditionen, aber auch alte und neue Erinnerungen weiterzugeben und selber vorzuleben. Jungen Menschen in Europa die Bedeutung von historisch gegebenen gemeinsamen Wurzeln zu vermitteln und an einer stabilen Brücke zu bauen, macht für mich Baltenarbeit zur Zukunftsarbeit.

Quelle: Mitteilungen aus baltischem Leben – 3/2015