Monika v. Hirschheydt

Brücken ins Baltikum

Deutsch-baltische Initiativen seit der Unabhängigkeit

Die 1990er Jahre waren eine Zeit des Aufbruchs und gewaltiger Veränderungen im Baltikum, und das hatte auch seismografische Auswirkungen auf die deutsch-baltischen Organisationen. Rückblickend kann man sagen, dass die Wiedervereinigung Deutschlands und die wieder gewonnene Selbstständigkeit der baltischen Republiken ein wahrer Jungbrunnen für die deutsch-baltische Arbeit gewesen sind. Es gab so viele neue Aufgaben und neue Erfahrungen, so viele Pläne und – so viele Möglichkeiten!

Der für alle Landsmannschaften höchst wichtige Leiter der Abteilung Vertriebene, Aussiedler und ostdeutsche Kulturarbeit im Bundeministerium des Inneren in Bonn war damals Ministerialdirektor Hartmut Gassner, ein Ostpreuße und langjähriger Baltenfreund. Er erzählte mir folgende Geschichte: In der ziemlich dramatischen Zeit, als die politischen Bedingungen für die Wiedervereinigung verhandelt wurden, rief ihn Bundesfinanzminister Waigel zu sich und fragte ihn – sinngemäß: Was kann man machen, damit die Vertriebenenverbände die Anerkennung der Oder-Neisse-Linie ohne störende Proteste akzeptieren? Herr Gassner schlug vor, die Mittel für die ostdeutsche Kulturarbeit zu erhöhen und die kulturelle Breitenarbeit zu professionalisieren. So geschah es.

Die Mittel für ostdeutsche Kulturarbeit wurden von gut 4 Millionen auf über 40 Millionen DM pro Jahr erhöht, und alle Landsmannschaften erhielten eine vom Bundesinnenministerium bezahlte Stelle für einen hauptamtlichen Kulturreferenten. Diese Stellen waren Kulturprojekte, die jedes Jahr neu beantragt werden mussten. Die Deutsch-Baltische Landsmannschaft im Bundesgebiet e.V. (DBLiB) beschäftigte von 1990 bis 1999 Monika v. Hirschheydt als Kulturreferentin. Ich war schon seit 1982 die Referentin für Öffentlichkeitsarbeit der DBLiB, blieb das auch nach 1999 und habe noch die Festschrift für das 50jährige Jubiläum der DBLiB im Jahre 2002 verfasst.

Bis 1999 sprudelten die Gelder aus Bonn, dann kam die rot-grüne Koalition ans Ruder, und die Bundesregierung kürzte die Zuwendungen für die Landsmannschaften drastisch. Die Kulturreferenten wurden wieder abgeschafft, außer vier zentralen Stellen, die für die Kulturprojekte von mehreren Landsmannschaften zuständig wurden. Alle Landsmannschaften starteten nach der Wende großartige Projekte der Völkerverständigung und der kulturellen Zusammenarbeit in ihren Heimatländern, meist im heutigen Polen, Tschechien, Rumänien und in Russland (Ostpreußen, Schlesier, Pommern, Sudetendeutsche, Siebenbürger Sachsen und viele andere).

Wie sah es 1991 bei den Deutschbalten aus? Es gab natürlich diese unfassbar vielen deutsch-baltischen Organisationen und Kontaktstellen, deren Adressen am Ende des „Deutsch-Baltischen Jahrbuches“ stehen und die alle am Schicksal des Baltikums Anteil nahmen. Und es gab noch ziemlich viele Deutschbalten, die Estnisch und Lettisch verstanden und sprechen konnten, weil sie vor 1939 in Lettland oder Estland in die Schule gegangen waren oder dort studiert hatten. Das waren die ersten Brückenbauer. Spätestens seit den 1970er Jahren fuhren sie mit dem Baltischen Reisebüro Wencelides an die Stätten ihrer Jugend. Sie schmuggelten Bibeln und Gesangbücher und andere verbotene Sachen in ihrem Gepäck und trafen heimlich lettische oder estnische Pastore und Schulfreunde in Riga oder Reval. Wir erinnern uns da besonders an die verstorbenen Claus v. Aderkas, Dietrich A. Loeber, Balthasar v. Bremen und Theo Hasselblatt. Einer von ihnen war auch Wolf v. Kleist, der Herausgeber und Chefredakteur der „Baltischen Briefe“.

Die „Baltischen Briefe“ hatten ihre Berichterstattung schon vor der Wende auf die Verhältnisse im sowjetischen Baltikum ausgerichtet. Baron Kleist war gut informiert. Wie viele gute Kontakte er in Lettland schon in der Sowjetzeit hatte, zeigte sich bei einem ungewöhnlichen Ausflug. Unvergessen – die Schiffsreise aus Anlass seines 70. Geburtstages im Juli 1992, zu der er alle Mitarbeiter der Blattteile der „Baltischen Briefe“ und seine Freunde und Familie eingeladen hatte. Man startete in Travemünde und fuhr – wie einst die ersten Kaufleute aus Lübeck – über die Ostsee und dann die Düna hinunter bis zum Rigaer Hafen. Dort stieg die ganze Gesellschaft in wartende Busse und fuhr – ohne einen einzigen Schritt in die Stadt Riga zu machen – direkt nach Ruhenthal. Dort erwarteten Schlossdirektor Imants Lancmanis und seine Frau Ieva sowie eine große Menge lettischer Gratulanten den Jubilar im Weißen Saal zu einem Geburtstagsempfang. Ich erinnere mich an manch rührende Begegnung und an viele erste Gespräche zwischen deutschen und lettischen Geburtstagsgästen. Es lag eine erwartungsvolle, gegenseitige Wissbegierde in der Luft. Nach zwei Stunden ging es wieder zurück, direkt zum Rigaer Hafen. Als das Schiff auslief, da verschwand allmählich die schöne Stadtsilhouette von Riga, so wie bei der Umsiedlung vor gut 50 Jahren, so erinnerten sich noch einige. An Deck erzählte mir Wolf Zoepf begeistert von der kürzlich (im Juni 1992) erfolgten Gründung von DOMUS RIGENSIS, einem deutschbaltisch-lettischen Zentrum in Riga. Ich wurde sofort Mitglied. Aber davon später.

Zurück zur Deutsch-Baltischen Landsmannschaft. Zur Zeit der Wende war ein dynamisches Team an der Spitze der Landsmannschaft: Waltraut Frfr. v. Tiesenhausen als Bundesvorsitzende und Werner Klingelhöller als Geschäftsführender Bundesvorsitzender. Frau v. Tiesenhausen fuhr voller Elan mit den Hilfstransporten der Aktion „Hessen hilft“ ins Baltikum, teils unter abenteuerlichen Bedingungen, und sie knüpfte dort ganz neue Kontakte.

Es gelang ihr sogar, eine umgestürzte Lenin-Statue, die zuvor auf dem Rosenplatz in Libau/Liepāja gestanden hatte, mit Genehmigung des lettischen Ministerpräsidenten Godmanis auf dem Rückweg in einem leeren LKW nach Darmstadt mitzunehmen. Aus dem Bronze-Lenin wurden später Friedensglöckchen gegossen, die für karitative Zwecke verkauft wurden. Allerdings, beim ersten Glockenschlag im Haus der Deutsch-Balten, war es einigen entsetzten Deutschbalten nicht geheuer, dass auf jedem Friedensglöckchen das Portrait von Lenin prangte. Da prallte unvermittelt der antibolschewistische Wertekanon auf einen unbefangenen Neuanfang. Dem Einsatz von Frau v. Tiesenhausen ist auch die Städtepartnerschaft zwischen Darmstadt und Libau/Liepāja zu verdanken.

Wir wollen aber nicht vergessen, dass in den Notzeiten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Hilfsbereitschaft bei den Landes-Landsmannschaften und in den Ortsgruppen überwältigend groß war. Es wurden ja ganze Krankenhaus-Einrichtungen ins Baltikum geschafft. Ein ganz großer Künstler im Beschaffen von Hilfsgütern war Alfred Katterfeld.

Herr Klingelhöller wiederum hatte das wunderbare Talent, Fördergelder für kulturelle Projekte zu beschaffen. Ihm war es wichtig, dass die Geldgeber erfuhren, welch großartige Leistungen auf vielen Gebieten die Deutschbalten vorweisen konnten. Daher war unser erstes Kulturprojekt die Selbstdarstellung der deutsch-baltischen Organisationen in dem Heft „Aktivitäten – die Deutsch-Baltische Gemeinschaft heute“. Danach wurde jede Gesamtvorstandssitzung ein Kulturprojekt und ebenso die Blattteile der „Baltischen Briefe“ mit der Berichterstattung der deutsch-baltischen Organisationen. Auch das hörte leider 1999 auf. Allerdings wurde die grenzüberschreitende Kulturarbeit mit Partnern in und aus den Herkunftsländern weiterhin gefördert.

Das größte kulturelle Projekt unter den neuen finanziellen und personellen Bedingungen war ab 1991 die Wanderausstellung „Das Baltikum und die Deutschen“. Da die Carl-Schirren-Gesellschaft (CSG) als das Deutsch-Baltische Kulturwerk in Lüneburg ebenfalls die Dienste der Kulturreferentin beanspruchte, wurde es ein gemeinsames Projekt von DBLiB und CSG.

In Deutschland war 1991 die Existenz des Baltikums weitgehend unbekannt. Die singende Revolution und die Menschenkette anlässlich des 50. Jahrestags des „Hitler-Stalin-Paktes“ gingen zwar durch die Presse. Aber – wo war das nochmal? Die Ausstellung sollte die weißen Flecken der Unkenntnis mit bunten Informationen füllen und Interesse und Verständnis für die wieder unabhängig gewordenen baltischen Republiken wecken. Im Blickpunkt der Konzeption stand also der Zuschauer, der keine Ahnung von Estland, Lettland und Litauen hatte und ebenfalls keine Ahnung, dass es dort jemals Deutsche gegeben hat und was die dort machten. Der Inhalt musste historisch richtig und einfach zu verstehen sein und vor allem gut illustriert werden.

Ziemlich bald wurde mir klar, ohne eine Zusammenarbeit mit Fachleuten in Lettland und Estland konnte die Ausstellung nicht gelingen. Mittels eines Kulturprojektes durfte ich 1991 ins Baltikum fahren, ausgestattet mit guten Ratschlägen der Brückenbauer. Das waren vor allem die Historiker Dr. Gert v. Pistohlkors, der 25 Jahre lang Vorsitzender der Baltischen Historischen Kommission war, Prof. Dr. Michael Garleff, viele Jahre Vorsitzender der Carl-Schirren-Gesellschaft, und Dr. Wilhelm Lenz vom Bundesarchiv in Koblenz. Sie hatten schon seit Jahren Kontakte zu Kollegen und Archiven im Baltikum. So wanderte ich in Riga und Dorpat/Tartu und Reval/Tallinn von Museum zu Archiv und von wissenschaftlicher Bibliothek zu Universität. Die Reichhaltigkeit und die gut gepflegte Fülle der historischen Bestände und Bilder in Estland und Lettland waren absolut beeindruckend.

In der Sowjetzeit waren die Deutschen als Teil der baltischen Geschichte in Estland und Lettland weitgehend unbekannt. Sie kamen im Schulunterricht oder in der Universität fast gar nicht vor, und wenn doch, dann ausgesprochen negativ. Trotzdem zeigten die lettischen und estnischen Bibliothekarinnen, Archivare oder Dozenten, die ich traf, ein überaus liebenswürdiges, wenn auch leicht abwartendes Interesse am Thema der Ausstellung. Ich bekam uralte, seltene Dokumente in die Hand und perfekte Kopien und Fotos, so viele wie ich haben wollte. Es fanden sich exzellente Übersetzer, die die deutschen Texte in die lettische und die estnische Sprache übersetzten. Es fanden sich kundige Begleiter, die passende Ausstellungsräume an verschiedenen Orten in Lettland und Estland vermittelten.

Das alles war nur möglich mit Unterstützung des Bundes. Allein die Herstellung der Ausstellung im Grafischen Atelier Hofer in Linz am Rhein hat schon weit über 100.000 DM gekostet. Dazu kamen die Kataloge in deutscher, lettischer und estnischer Sprache und der professionelle Transport der schweren Kisten mit den Stellwänden von Stadt zu Stadt. Aber es hat sich gelohnt. Die Ausstellung war ein großer Erfolg. Die deutsch-baltischen Ortsgruppen boten informative Kulturprogramme rund um die Präsentation der Ausstellung an. Sie war in Rathäusern, Sparkassen oder Kulturzentren in über 60 Städten in ganz Deutschland zu sehen. 1995 wurde sie erstmals in Lettland und in Estland gezeigt.

An jedem der insgesamt acht Ausstellungsorte in Lettland und Estland betreuten Deutschbalten, die der lettischen bzw. estnischen Sprache mächtig waren, die Ausstellung vor Ort. Sie beantworteten zwei Wochen lang täglich viele Fragen und erfuhren selbst viel Neues. Die meisten Deutschbalten hatten damals ein relativ einseitiges Bild von ihren Herkunftsländern. Die Landesgeschichte wurde vorwiegend aus deutschbaltischer Perspektive gesehen, und sie endete im Jahre 1939, für manche schon mit dem Jahr 1919. So war die Bereicherung der Kenntnisse nach der Beseitigung des „Eisernen Vorhangs“ durchaus gegenseitig.

Bis heute stellt die Wanderausstellung „Das Baltikum und die Deutschen“ ein eingängiges Anschauungsmaterial dar, einen illustrierten Überblick über die baltische Geschichte bis zur Gegenwart. Dank der Initiative von Gernot Mantz, seinerzeit als Geschäftsführender Bundesvorsitzender, wurden die Ausstellung und der Katalog 2008 aktualisiert. Die Ausstellungstafeln wurden dann auf Stoffwände projiziert, so dass man sie nun im Auto privat transportieren kann. Seitdem ist sie immer wieder in Estland und Lettland gezeigt worden. So hört oder liest man, dass Herr Maurach die Wanderausstellung zu einem Jubiläum in Libau oder in Dünaburg eröffnet hat, dass Frau Anton sie aus diesem oder jenem Anlass nach Riga vermittelt hat, dass Herr von Auer sie in Reval oder Dorpat eröffnete. Im Sommer 2016 sind die Original-Stellwände in Schloss Neuenburg in Kurland als Dauerausstellung aufgestellt worden, dank des Einsatzes von Thomas Baron v. der Recke, dessen Familie aus Neuenburg stammt, und der rührigen Inta Dišlere vom Museum in Tuckum. Das ist doch fabelhaft!

Doch nun zu DOMUS RIGENSIS. Erstaunlich aber wahr, das Deutschbaltisch-Lettische Zentrum DOMUS RIGENSIS in Riga ist schon bald 25 Jahre alt, und es erfreut sich bis heute eines regen Zuspruchs. Die geistigen Väter waren der Rigaer Stadtarchitekt Pēteris Blūms  und Wolf T. Zoepf seitens der Carl-Schirren-Gesellschaft. Sie hatten 1991 die Idee, einen Ort der Begegnung für Letten und Deutschbalten in Riga zu schaffen, und sie fanden viele lettische und deutschbaltische Mitstreiter für die Gründung dieses ersten gemeinsamen Vereins in Riga. Es war ein genialer Ansatz, die spannungsreiche, baltische Geschichte durch die Begegnung der Menschen aus unterschiedlichem Blickwinkel neu kennenzulernen und sich gemeinsam für den Erhalt des deutsch-baltischen kulturellen Erbes einzusetzen.

Über die Jahre hat DOMUS RIGENSIS unter der Leitung von Pēteris Blūms  und Wolf Zoepf, Ojārs Spārītis und Babette v. Sass, Eižens Upmanis und Monika v. Hirschheydt und nun Vija Daukšte und Manfred v. Boetticher eine nicht immer reibungslose, aber ideenreiche Entwicklung genommen. Ein reichhaltiges Vortragsprogramm, Ausstellungen und Konzerte haben zu einem erweiterten Verständnis für die gemeinsame Geschichte und Kultur beigetragen. Und es sind viele Freundschaften entstanden.

Unsere liebe Nora Rutka leitet seit 24 Jahren die Geschäftsstelle von DOMUS RIGENSIS im Haus Mentzendorff in der Altstadt von Riga. Nora erzählte uns, dass sie sogar während ihres Studiums der Germanistik zu Sowjetzeiten nie etwas über Deutsche in Lettland gehört hatte. Nun, sie hat Gelegenheit bekommen, die Deutschbalten kennenzulernen. Sie ist eine lebendige Kontaktbörse geworden für alles, was mit deutschbaltischen Themen in Lettland zu tun hat, und sie ist mit ihrer herzlichen Aufgeschlossenheit unbestritten die Seele von DOMUS RIGENSIS!

Dr. Vija Daukšte ist die Vorsitzende von DOMUS RIGENSIS. Als Historikerin und Leiterin der Abteilung Lettonica und Baltisches Zentrum in der neuen Staatsbibliothek in Riga sorgt sie für eine Weiterentwicklung von DOMUS RIGENSIS auf geschichtswissenschaftlichem Gebiet. Gleiches gilt für ihren Stellvertreter, Dr. Manfred v. Boetticher, der als Archivar seit vier Jahren mit Unterstützung des DAAD im lettischen Staatsarchiv Seminare für das Entziffern alter deutscher Texte hält und mit Vorträgen in Lettland präsent ist. Beide haben ein zusätzliches Publikum gewonnen.

Die menschlichen Begegnungen dürfen dabei natürlich keineswegs zu kurz kommen, denn sie sind am wichtigsten für die gemeinsame Zukunft in Europa. Und dafür stehen auch die Juvenum-Tage des Jugendreferats DOMUS RIGENSIS-Juvenum und die baltischen Seminare der Deutsch-Baltischen Studienstiftung und natürlich auch die Mare-Balticum-Tage.

Nun etwas aus Estland. Ein besonders eindrucksvolles Erlebnis in Estland war für mich 1994 die Einweihung des wieder errichteten Denkmals für die Gefallenen des Baltenregiments auf dem Domberg in Reval. Die Rekonstruktion fand auf estnische Anregung hin unter der Leitung von Architekt Heinz Luther statt, damals Landesvorsitzender der DBL in Hessen und Thüringen, unterstützt von einer Spendensammlung von Bernd Müller, Landesvorsitzender in Bremen. Beide stammten natürlich aus Estland und sprachen gut Estnisch. Wir dachten, die Einweihung wird so eine kleine deutschbaltische Feier sein mit ein paar höflichen Esten. Der Bundesvorstand fuhr gar nicht erst hin, dafür aber eine Menge deutschbaltischer Freunde der Initiatoren.

Und siehe da! Es kamen: der Präsident der Republik Estland, Lennart Meri mit Frau, der Ministerpräsident Mart Laar, Erzbischof Kuno Pajula, hochrangige Vertreter des estnischen Verteidigungsministeriums, der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland, Henning v. Wistinghausen und Vertreter von Zeitung, Funk und Fernsehen. Es gab einen eindrucksvollen Gottesdienst im dicht gefüllten Dom mit einer Predigt von Pastor Theo Hasselblatt auf Deutsch und auf Estnisch. Wir hörten wunderbare Reden, in denen die große Wertschätzung Estlands für das Baltenregiment und seine Bedeutung für den Freiheitskampf Estlands im Jahre 1919 zum Ausdruck kamen. Nachdem Erzbischof Pajula das Denkmal geweiht hatte, wurden Kränze der Deutsch-Baltischen Landsmannschaft und der Estländischen und der Öselchen Ritterschaft niedergelegt.

Zum Abschluss gab es einen Empfang im früheren Sitz der Deutschen Kulturselbstverwaltung im ehemaligen Ungernschen Palais. Und da hörte ich, wie Theo Hasselblatt zu Präsident Meri sagte: „Wissen Sie noch, wie Sie bei meinem Sohn in seinem Studentenzimmer in Göttingen auf der Luftmatratze übernachtet haben?“ Da lachte Lennart Meri herzlich und sagte „Natüürlich!“ Die Esten zeigten früh ein selbstbewusstes, unkompliziertes Verhältnis zu den estländischen Deutschbalten.

Dagegen war das Landeswehrdenkmal in Riga ein schwieriges Dauerthema bei vielen Gesamtvorstandssitzungen der DBLiB. Immer wieder meldete sich Ursula Lyra zu Wort und mahnte an, dass man sich um das zerstörte Landeswehrdenkmal kümmern sollte. Und jedes Mal sagten die deutsch-baltischen Lettland-Experten: nein, das geht nicht. Das wollen die Letten nicht. Das Landeswehrdenkmal war kurz nach seiner ersten Errichtung im Jahre 1929 von Unbekannten gesprengt worden, es wurde neu errichtet und war dann endgültig durch die Kriegseinwirkungen zerborsten. Das lettische Verhältnis zur Landeswehr war u.a. durch die Schlacht bei Wenden belastet.

Das Thema blieb aber auf der Tagesordnung, besonders Dr. Heinz-Adolf Treu und Dr. Gerhard Mietens setzten sich dafür ein. Eines Tages, im Jahre 2001, verkündete Eižens Upmanis, Vorstandsmitglied von Domus Rigensis und zuständig für die Rigaer Friedhöfe: Das Landeswehrdenkmal wird wieder aufgebaut. Er arbeitete mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge zusammen, und als der Volksbund ein zentrales Denkmal für die in Lettland gefallenen deutschen Soldaten auf dem Waldfriedhof (II) in Riga errichtete, da wurden auch die zerborstenen Teile des Landeswehrdenkmals von einem lettischen Künstler in eindrucksvoller Weise wieder zusammengefügt. Pastor Claus v. Aderkas weihte das Denkmal mit einer bewegenden Ansprache ein.

Inzwischen sind zwei Tafeln mit den Namen der Gefallenen vor dem Landeswehrdenkmal angebracht worden (auf Initiative von Dr. Mietens). Und jedes Jahr am 22. Mai veranstalten lettische Mitglieder von DOMUS RIGENSIS eine Gedenkstunde an die Befreiung Rigas und die Gefallenen der Landeswehr. In diesem Jahr nun ist auf lettische Initiative hin ein neues Landeswehrdenkmal in Lettland errichtet worden. Die Einweihung in Hinzenberg/Inčukalns, wo Ende 1918 die ersten Kämpfe gegen die sowjetische Invasion viele Opfer fanden, war eine nachdenkliche Feier mit deutlichen Bezügen zur Gegenwart. So ändern sich die Zeiten!

Im gleichen Jahr 2001 wurde zur 800-Jahr-Feier von Riga die Statue des Stadtgründers Bischof Albert als Geschenk der Deutschbalten am Kreuzgang an der Wand des Domes eingeweiht. Die Statue ist von lettischen Bildhauern nach altem Vorbild rekonstruiert worden. In der lettischen Presse war Bischof Albert als Stratege der Kreuzzüge zur Bekehrung der Einheimischen und zur Eroberung des Marienlandes Livland nicht unumstritten. Heute gehört sein Standbild ganz selbstverständlich zu jeder Stadtbesichtigung.

Als ehemalige Kulturreferentin müsste ich hier vor allem die unschätzbaren Verdienste der Carl-Schirren-Gesellschaft – das Deutsch-Baltische Kulturwerk in Lüneburg – würdigen. Und die Historikertreffen und die zahlreichen Veröffentlichungen der Baltischen Historischen Kommission in Göttingen und ihre Kooperation mit estnischen und lettischen Wissenschaftlern und Universitäten. Auch die hochinteressanten Tagungen der „Studiengruppe für gegenwartsbezogene Baltikumforschung“, die 1984 von Prof. Dr. Boris Meissner gegründet wurde. Schon in den 1980er Jahren haben im wissenschaftlichen Bereich viele spannende, gegenseitige Beziehungen begonnen. In den letzten 25 Jahren sind so viele bemerkenswerte Veranstaltungen, Ehrungen und Veröffentlichungen dazu gekommen. Man muss nur die Deutsch-Baltischen Jahrbücher durchblättern.

Es ist keine Sensation mehr, wenn Referenten aus dem Baltikum auf deutsch-baltischen Tagungen sprechen, und ebenso erfreuen sich deutsch-baltische Referenten großer Wertschätzung in Estland und Lettland. Wir überlassen also die Dokumentation der kulturellen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit der deutsch-baltischen Institutionen mit Partnern im Baltikum einer Doktorarbeit. Für die Zukunft können wir gespannt sein auf die Eröffnung der Deutsch-Baltischen Abteilung im Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg, die für nächstes Jahr geplant ist. Hier werden bestimmt viele weitere Möglichkeiten zur Zusammenarbeit entstehen.

Es liegt mir am Herzen, dass wir uns, wenigstens kurz, den deutsch-baltischen Pastoren zuwenden. Ohne sie würde ein wichtiger Baustein, ja sogar der Eckstein in den gegenwärtigen baltisch-deutschen Beziehungen fehlen. Natürlich kann ich hier nicht entfernt alle Verdienste des Deutsch-Baltischen Kirchlichen Dienstes aufzählen. Die Pastoren hatten schon mit dem estnischen und lettischen Exil enge Verbindungen aufgebaut. Ich sage nur: Wer einmal an der jährlichen Rüstzeit des Deutsch-Baltischen Kirchlichen Dienstes in Springe teilgenommen hat, der weiß, wie detailliert die meist betagten, aber äußerst munteren Teilnehmer über die Verhältnisse in Estland und Lettland Bescheid wissen und wie viel Aufmunterung und Unterstützung die dortigen Gemeinden von ihnen erfahren. Man kann herrliche Gespräche führen, zum Beispiel mit Kirchenmusiker Johannes Baumann. Er hat nach der Wende alle Kantaten von Johann Sebastian Bach ins Lettische übersetzt und so manches Mal die Orgel im Rigaer Dom gespielt. Obwohl er inzwischen 90 Jahre alt geworden ist, übersetzt er weiterhin die Kirchenmitteilungen aus den lettischen Gemeinden ins Deutsche und lässt sie an seine Fan-Gemeinde verschicken.

Pastor Paul-Gerhard von Hoerschelmann kennt jeden Pastor in Estland, weil er selbst bei der Ausbildung der estnischen Pastoren beteiligt war. Pastor Heinrich Wittram ist kritisch gegenüber der obersten, lettischen Kirchenleitung, hat aber schon in vielen Kirchen Lettlands gepredigt und alle deutschen Gemeinden in Lettland betreut. Er hat nicht nur manche Andacht bei den DOMUS-RIGENSIS-Tagen gehalten, sondern ist auch sonst bei baltischen Veranstaltungen unentbehrlich. Gertje Anton verwaltet den Girgensohn-Aderkas-Fonds und leistet mit den Spendenmitteln kontinuierliche Hilfe in Lettland. Pastor Jörn Schneider ist mit dem Lieberg-Fonds/ Estlandhilfe segensreich in Estland tätig. Man kann nicht alle wichtigen Brückenbauer aufzählen, aber wir können dem lieben Gott danken, dass es sie gibt.

Bevor ich mit einem Ausblick auf die Jugend schließe, möchte ich noch ein paar Worte zu den Initiativen der Baltischen Ritterschaften sagen, denn die sind hier meistens weniger bekannt. Der Verband der Baltischen Ritterschaften hatte nach der Wende beschlossen, als Repräsentant der Ritterschaften nicht offiziell in Estland und Lettland aufzutreten. Die einzelnen Ritterschaften von Kurland, Livland, Estland und Ösel wurden dort aber höchst aktiv. Besonders die Kurländische Ritterschaft hat durch ihre Vereinigten Kurländischen Stiftungen ein Vermögen, aus dem sie sich an zahlreichen Projekten im Denkmalschutz in Kurland beteiligen kann, mit Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland. Auf diese Weise sind viele Kirchendächer in Kurland neu gedeckt worden, Kulturgüter restauriert und Publikationen erschienen. Nicht hoch genug einzuschätzen ist dabei die Zusammenarbeit mit Dr. h.c. Imants Lancmanis und mit Prof. Dr. Ojārs Spārītis.

Bei den anderen Ritterschaften fördert die Verbandsstiftung des Verbandes der Baltischen Ritterschaften einzelne Projekte. So z.B. die Restaurierung der alten Wappen in der Domkirche von Reval, die Ausstattung der romanischen Kirche von Pölde auf Ösel mit historisch passenden Fenstern, die Erstellung eines Katalogs zur Ausstellung über die Livländische Ritterschaft durch das Museum in Wenden/Cēsis. oder die Ermöglichung von Jugend-Arbeitsfreizeiten auf Gütern in Lettland und Estland. Alle diese Initiativen werden mit Partnern vor Ort angegangen. Die Ausstellung „Die Livländische Ritterschaft und Lettland“ und die dazu gehörige Konferenz mit lettischen und deutschbaltischen Referenten in Wenden/Cēsis (2015/16) sind ein Meilenstein in der Entwicklung der vergangenen 25 Jahre. Das Interesse für die gemeinsame Geschichte und die Liebe zum Land der Väter haben berechtigte Ressentiments überwunden.

Nun zur Jugend. Im Jahre 1991 machte unsere Tochter Astrid einen Jugendaustausch des Deutschbaltischen Jugend- und Studentenrings (DbJuStR) nach Lettland und Estland mit. Sie wohnte bei einer lettischen Familie in Riga, deren Tochter anschließend bei uns in Königswinter-Thomasberg zu Gast war. Die Austauschgruppe war just in der Woche um den 21. August in Riga. Astrid stand auf dem Domplatz zwischen Panzern und Barrikaden, während wir in Deutschland im Radio eine Reportage hörten, dass Soldaten gerade das Medienzentrum in Riga stürmen. Keine Handys, keine Telefonverbindung, bange Stunden. Dann der 21. August 1991! Jetzt standen die jungen Leute inmitten von einem Meer von begeisterten Menschen mit Fahnen und Blumen am Freiheitsdenkmal. Für alle ein unvergessliches, überwältigendes Erlebnis.

Die Studenten verbrachten anschließend noch eine Woche im freien Estland. Die Austauschgruppe war in die Sowjetunion eingereist und kam aus den unabhängigen Republiken Estland und Lettland wieder zurück nach Hause. Man sieht, der DbJuStR war ganz aktuell dabei, die Brücken zum Baltikum zu betreten. Bei gemeinsamen Seminaren und Feiern im Baltikum und in Lüneburg und in Darmstadt sind inzwischen viele Freundschaften entstanden – und sogar Ehen. Da wollen wir doch die Hoffnung auf eine wunderbare, gemeinsame Zukunft nicht aufgeben!

Quelle: Mitteilungen aus baltischem Leben – 4/2016