Niels Annen

Sicherheitsarchitektur im Baltikum

Deutschlands Beziehungen zu den baltischen Staaten in Krisenzeiten

Das Verhältnis zwischen Russland und seinen Nachbarstaaten auf der einen und die Beziehungen zu der westlichen Staatengemeinschaft auf der anderen Seite haben sich in jüngster Vergangenheit, insbesondere seit der Krim-Annexion und Moskaus neuen regionalen Machtbestrebungen, eingetrübt. Europa steht wieder vor großen sicherheitspolitischen Herausforderungen. Besonders in den baltischen Staaten und Polen verbreitet sich die Furcht einer unmittelbaren militärischen Bedrohung durch Russland. Befürchtungen, Putin könne russische Minderheiten in Lettland, Litauen und Estland mobilisieren und instrumentalisieren und so die jungen Demokratien destabilisieren, müssen wir ernst nehmen, ohne sie uns deswegen zu eigen zu machen. Ziel der deutschen Außenpolitik bleibt es, einen Rüstungswettlauf und eine Eskalation der Konfrontation zwischen den NATO-Verbündeten und Russland zu verhindern und einen konstruktiven Dialog zwischen beiden Seiten zu fördern.

Deutschlands historisch-gewachsene Beziehungen mit den baltischen Staaten können zweifelsfrei als gut bezeichnet werden. Das gegenseitige Interesse beruht auf einer über 800-jährigen gemeinsamen Geschichte. Trotz dieser starken Verbundenheit sollte aber eines klar sein: Die politischen Antworten auf die historisch begründbare Furcht der östlichen Bündnispartner vor Russland können keineswegs rein militärischer Natur sein. Es kann nicht im langfristigen Interesse der NATO sein, in der gegenwärtigen militärischen Konfrontationslogik zu verharren. Statt auf dem eindimensionalen Kredo der „Beruhigung durch Abschreckung“, welches lange in den NATO-Russland-Beziehungen zu überwiegen schien, muss unsere Außenpolitik gegenüber Russland stets auf zwei Säulen basieren: Rückversicherung und Dialog. Diese Herangehensweise wurde von Frank-Walter Steinmeier in die Verhandlungen des Warschauer Gipfels eingebracht und findet sich nun auch in dessen Abschlussdokument wieder. Diplomatie muss vor militärischen Aktionen stets Vorrang haben; nur so lassen sich Konflikte dauerhaft lösen.

In diesem Sinne kann auch FrankWalter Steinmeiers kürzlich geäußerte Kritik an dem von Polen geleiteten Militärmanöver „Anakonda 16“ im Baltikum verstanden werden. An diesem Manöver nehmen über 25.000 Soldaten zahlreicher NATO-Staaten und Partner sowie 1000 Mann der „Schnellen NATOEingreiftruppe“ teil. Steinmeiers Äußerung, die Lage nicht durch „lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul“ anzuheizen, wurde in Deutschland als auch in Europa mit heftiger Kritik bedacht – und das zu unrecht. Unser Außenminister mag deutliche – und ja auch kontroverse – Worte gewählt haben, aber seine Einschätzung ist politisch richtig und sollte das deutsche Handeln innerhalb der NATO leiten. Militärisches Kräftemessen hat schon im Kalten Krieg zu einer gefährlichen Aufrüstungsspirale geführt. Deshalb brauchen wir sowohl ein starkes Bündnis als auch Diplomatie. In den letzten Jahren haben bspw. Berlins Bemühungen dazu beigetragen, dass sich der Konflikt in der Ostukraine nicht zu einem regionalen Flächenbrand entwickelt hat.

Diese auf zwei Säulen basierende Politik gegenüber Russland nimmt in der politischen Praxis der NATO seit kurzem wieder stärker Form an: Auf der einen Seite wurde die Präsenz der NATO im Baltikum und in Polen moderat gestärkt. Dieses symbolträchtige Zeichen macht deutlich, dass die NATO zur Einhaltung der Bündnisverpflichtungen entschlossen ist. Es zeigt auch, dass die Sorgen der baltischen Staaten und Polens vor einer potentiellen Aggression Russlands gehört werden. Erst kürzlich hat die NATO während des Warschauer Gipfels (8.-9. Juli) Einigkeit demonstriert und die Stationierung von vier Bataillonen von je bis zu 1000 Soldaten in Polen, Estland, Lettland und Litauen beschlossen. Die Bundeswehr wird die NATO-Einheit in Litauen führen.

Auf der anderen Seite kommt nun auch parallel zur militärischen Abschreckung langsam ein Dialogprozess mit Russland in Gang, der insbesondere auf Initiative von Frank-Walter Steinmeier forciert und auf dem Warschauer Gipfel von den NATO-Alliierten bestätigt wurde. Bundesminister Steinmeier hat sich wiederholt für die Fortführung der Gespräche im Rahmen des NATO-Russland-Rates eingesetzt, der am 13.7.2016 erst zum zweiten Mal seit der KrimAnnexion tagte. Dieses Format erweist sich als eine gute Möglichkeit, wieder in einen kontinuierlichen Dialog mit Russland zu treten. Es ist auch im europäischen Interesse, dass Russland ein verantwortungsvoller internationaler Partner wird.

Kurzum: Die Vergangenheit hat gezeigt, dass es durchaus gelingen kann, mit Russland zusammen zu arbeiten, wenn zuvor gemeinsame Interessen identifiziert wurden. Auch kann stark bezweifelt werden, dass Russland darauf abzielt, durch eine militärische Invasion in Estland, Lettland oder Litauen den Bündnisfall und somit einen militärischen oder gar atomaren Konflikt auszulösen. Deutschland wird deshalb auch in Zukunft für einen Dialog mit Moskau im Rahmen der NATO – und auch bilateral – werben, um bestehende Konflikte einzudämmen und neue – so auch im Baltikum und in Polen – möglichst zu verhindern.

Niels Annen MdB ist Außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und ihr Obmann im Außenpolitischen Ausschuss des Deutschen Bundestages. 

Quelle: Mitteilungen aus baltischem Leben – 3/2016