Jochen Partsch

Willkommen heißen – Unterstützen – Interkulturalität bewusst leben

 Wie stellt die Wissenschaftsstadt Darmstadt sich der Herausforderung, geflüchtete Menschen in die Stadtgesellschaft zu integrieren?

Im Spätsommer 2015, als die Anzahl der Menschen rapide anstieg, die weltweit vor Krieg, Verfolgung und Not fliehen mussten, bat das Hessische Innenministerium Darmstadt um Unterstützung. Da die Erstaufnahmeeinrichtung des Landes bereits in hohem Ausmaß überbelegt war, mussten innerhalb weniger Tage in zwei Phasen Notunterkünfte für insgesamt 2000 geflüchtete Menschen geschaffen und deren medizinische und soziale Erstversorgung gewährleistet werden. Die wöchentlichen Zuweisungen von asylsuchenden Menschen vervielfachten sich, die in Darmstadt für die Dauer ihres Asylverfahrens (bis zu drei Jahre) eine vorübergehende oder dauerhafte Heimat suchen. In kürzester Zeit wuchs die Bevölkerungszahl Darmstadts (von 152 000) um deutlich mehr als 4.000 Geflüchtete an. Heute, im Juli 2016, leben rund 1.800 Asylsuchende und 240 unbegleitete minderjährige Ausländer in der Stadt. Weitere 450 Menschen sind in einer Außenstelle der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung in Darmstadt untergebracht. Wir rechnen damit, dass insgesamt mehr als 4.500 Menschen mit einer Fluchterfahrung aus den letzten Jahren in unserer Stadt leben.

Die Zuspitzung der Situation erforderte von allen beteiligten Akteuren – von MitarbeiterInnen des Katastrophenschutzes, über VerwaltungsmitarbeiterInnen bis hin zu VertreterInnen aus der Politik – eine engmaschige, zielorientierte Zusammenarbeit und vor allem eine hohe Einsatzbereitschaft. Ein Krisenstab wurde einberufen, Arbeitsgruppen aufgebaut, Personal akquiriert. Aber nicht nur von hauptamtlicher Seite rückte man näher zusammen und bündelte Energien, vor allem zeigte die Darmstädter Bürgerschaft ein enormes Engagement. Das gemeinsame und erste Etappenziel lautet: Neu Zugewanderte willkommen zu heißen und ihnen eine menschenwürdige Unterkunft bereitzustellen. Dies erfordert auch heute noch große Anstrengungen, vor allem bei der Akquise von geeignetem Wohnraum in einer Stadt, die ohnehin einen angespannten Wohnungsmarkt aufweist. Die dezentrale Unterbringung in kleinen Wohneinheiten hat für uns erste Priorität, was sich zur Zeit aber angesichts der hohen Zuzugszahlen nicht umsetzen lässt.

Weitere Herausforderungen ergeben sich nun im Bereich der gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Teilhabe der neuen StadtbewohnerInnen. Die Förderung des Spracherwerbs und die Qualifizierung für den deutschen Arbeitsmarkt sind für uns der zentrale Schlüssel der Integration. Deshalb bietet Darmstadt Alphabetisierungsund Sprachkurse für alle Geflüchteten an – unabhängig von ihrer Bleibeperspektive. Damit nivelliert die Stadt die soziale Ungleichheit, die der Gesetzgeber durch die Differenzierung erwirkt hat.

Wir richten unseren Fokus aber auch auf die Unterstützung in der Alltagsbewältigung, die sich aufgrund sprachlicher Barrieren, rechtlicher Besonderheiten und Restriktionen komplexer gestaltet als bei Innländern. Die oberste Prämisse bei der Unterstützung der Geflüchteten ist, die bereits bestehenden und lange Zeit bewährten Regelstrukturen zu öffnen, damit Geflüchtete diese Angebote wahrnehmen können. Hierbei kann die Stadt auf die Erfahrungen zurückgreifen, die sie im Bereich Migration und Integration gesammelt hat,. Daraus resultiert beispielsweise eine enge Zusammenarbeit mit den etablierten Communities und Organisationen von Migranten. Gerade bei der Vermittlung von kulturellen Eigenarten und gesellschaftlichen Werten setzen wir auf die Kompetenz der Menschen, die in zwei Kulturräumen zuhause sind. Dennoch ist es nicht leicht, in wenigen Monaten Normen und Werte zu vermitteln, die sich hierzulande innerhalb vieler Jahrzehnte entwickelt haben.

Eine zentrale Bedeutung im Integrationsprozess messen wir auch dem Ehrenamt und den Vereinen bei. Die Stadt unterstützt vielfältige Initiativen, die eine Begegnung zwischen der Aufnahmeund der Einwanderungsgesellschaft ermöglichen, ideell und finanziell. Für die Flüchtlingshilfe wurde ein Spendentopf geschaffen, sodass z.B. die Fahrradwerkstadt, der Sportverein oder der Handarbeitstreff gefördert werden können.

Wer persönlichen Kontakt zu einem Menschen mit Fluchterfahrung aufgebaut hat, entwickelt ganz automatisch ein tieferes Verständnis für die Situation und wird zu einem Fürsprecher, der ein Zeichen gegen Diskriminierung und Rassismus setzen kann. Leider erleben wir auch hier – wie in anderen Städten Deutschlands –, dass die Flüchtlingssituation die Gesellschaft polarisiert und rechtsmotivierte Stimmen lauter werden. Vorurteile lassen sich jedoch in vielen Fällen entkräften, Ängste und Sorgen auffangen. Mit diesem Anliegen haben wir die Kampagne „Darmstadt bleibt weltoffen!“ gestartet. Hier informieren wir zielgruppenorientiert und stärken die positive Grundhaltung der Darmstädter gegenüber Menschen aus anderen Kulturkreisen.

Die Darmstädter Stadtgesellschaft befindet sich in einem stetigen Wandel. Sie hat mit jeder Migrationsbewegung wichtige Erfahrungen gesammelt, aus vergangenen Fehlern dazu gelernt, vor allem aber eine große Bereicherung erfahren. Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen kann zwar zu Konflikten führen, eröffnet aber auch neue Räume, in denen Ideen entstehen und Entwicklungen stattfinden können. Aus diesem Grund werden wir weiterhin darauf hinarbeiten, dass Weltoffenheit und Toleranz für Interkulturalität das Stadtklima prägen.image

Jochen Partsch ist Oberbürgermeister der Wissenschaftsstadt Darmstadt, der Patenstadt der Deutsch-Baltischen Gesellschaft. 

Quelle: Mitteilungen aus baltischem Leben – 3/2016