Internationale Kulturtage Mare Balticum 2015

Grenzüberschreitungen

Wie mit Grenzen umgehen? Das ist nicht nur eine Frage der Vergangenheit. Sie sichern oder aufheben? Sich abschotten oder öffnen? Deutschbalten haben eigene Erfahrungen aus jüngerer Zeit: Als Flüchtlinge wurden sie bei allen Schwierigkeiten so aufgenommen, dass fast allen die Integration leicht fiel; als Teil des nationalsozialistischen Deutschland waren sie beteiligt an der Entgrenzung unserer Kultur und der Missachtung der Grenzen nicht nur Polens und der baltischen Staaten. Heute tragen Andere die Last, die ihnen Grenzen bereiten. – Seltener ist, dass die Wiedererrichtung gewaltsam eingerissener Grenzen befreit, wie das Beispiel der baltischen Staaten bezeugt.

Dr. Heinrich Bosse   Dr. Igor Barinow   Pastor Kaj Wechterstein

Der Titel „Grenzüberschreitungen“ der Internationalen Kulturtage Mare Balticum im November 2015 ist mehrdeutig: Geographische Grenzen werden überwunden, um zu neuen Ufern aufzubrechen – so die wagemutigen Weltumsegelungen von Adam Johann von Krusenstjern und seinen Freunden, an die Erik Tamiksaar aus Dorpat erinnerte. Die erfolgreiche Forschungsreise, zu der die beiden Schi e „Nadesha“ und „Newa“ am 26. Juli 1803 von Kronstadt aus in See stachen, spiegelt sich in der Korrespondenz mit der „schönen und geistig regen“ Ehefrau Juliane Christiane Charlott, aus der Annelore Taube (geb. von Krusenstjern) las. – Über die Flucht von Deutschbalten aus dem russischen Bürgerkrieg 1919 berichtete sachkundig und lebendig die Historikerin und Journalistin Anita Kugler. In die Gegenwart führte der lettische Wissenschaftler Austris Grassis mit seinem nachdenklichen Vortrag über die umstrittene Flüchtlingspolitik seines Landes.

Bisherige und künftige Macher der Kulturtage Mare Balticum, von links: Andreas Hansen, Christian Donath, Frank von Auer, Hemma Kanstein und Hans Werner Donath

Geographische Grenzen können auch mit dem Ergebnis überschritten werden, kulturelle zu erweitern. So erging es Est-, Livund Kurland, als die Reformation sie erreichte. Andris Levants von der Universität Lettlands in Riga schilderte anschaulich, wie sich die Emanzipationsbestrebungen des Bürgertums mit der geistigen Erneuerung verbanden. Mit dem Beitrag deutschbaltischer Pastore zur Entwicklung der Schriftsprache von Esten und Letten pro tierte auch die autochthone Bevölkerung von „Luthers Gesandten“. Von ähnlicher Bedeutung waren Johann Gottlieb Herders volkskundliche Arbeiten während seiner Rigaer Zeit, über die Peter Wörster vom Herder-Institut in Marburg Auskunft gab.

Von der schmerzensreichen Überschreitung provinzieller Grenzen innerhalb der geographischen Provinz des Baltikums zeugen Schicksal und Werk von Casimir Ulriuch Boehlendor. Sein „Wandern und Irren“ als „Heimatloser in der Heimat“ eröffnete ihr weite Horizonte und durchdringt seine Lyrik. Heinrich Bosse von der Universität Freiburg interpretierte eindrucksvoll das große Gedicht „Frage an den Gott des Regens“. – Frank von Auer nahm schließlich die Teilnehmer mit auf Münchhausens grenzüberschreitendem Ritt auf der Kanonenkugel. Der Freiherr hatte im Baltikum nicht nur seine Frau, sondern vielfältige Anregungen für seine gar nicht so lügenhaften, bisweilen tiefsinnigen Lügengeschichten erworben, die uns heute ein nachdenkliches Vergnügen bereiten.

Zu Grenzüberschreitungen der eigenen Existenz spornte die Andacht von Pastor em. Kaj Wechterstein an. In Zeiten grenzüberschreitender Kriegsfolgen ruft der Epheserbrief aus den Erfahrungen der frühen Christenverfolgung zur Besinnung auf die „geistliche Wa enrüstung“ der Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und des Glaubens. Die Bergpredigt füllt diese Begri e: Gib dem, der dich nötigt, mehr als er fordert. Geh mit ihm, kleide ihn und „liebt eure Feinde“. So sind die Christen auch heute gefordert.

Polonaise muss sein!   Ohne Francaise kein Baltenball. Maître de Plaisir: Dr. Martin Pabst

Wie stets, gab die Tagung Gelegenheit zu persönlichen Begegnungen mit alten und jungen Gästen aus den baltischen Staaten. Der Gesellschaftsabend vereinigte die rund 100 Teilnehmer zur sportlichen Bewährung in Traditionstänzen und neueren Erscheinungsformen. Dem Team um Rulla und Karin Donath gilt der Dank für die köstliche Bewirtung und anheimelnde Atmosphäre, den guten Geistern um Hemma Kanstein im Baltenhaus für die Bewältigung der anspruchsvollen organisatorischen Vorbereitung und Durchführung. Für ihre nanzielle Unterstützung danken wir unseren Sponsoren: der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, der hessischen Landesregierung und der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung. (va/cd)

Quelle: Mitteilungen aus baltischem Leben – 1/2016